Lisa

“Ich war einfacher als die anderen”

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Wir wollen ehrlich sein: Rein statistisch gesehen sind die Chancen, dass Du als Arbeiterkind studierst oder studieren wirst, nicht besonders hoch. Gerade einmal 21 von 100 Arbeiterkindern gehen an die Universität. Bei Kindern aus Akademikerfamilien sind es 74 von 100. Das sind die bloßen Zahlen aus dem Bildungsreport 2020. Aber lass Dich davon nicht entmutigen. Lisa K. ist auch Arbeiterkind. Und schreibt gerade in Halle an der Saale ihren Masterabschluss.

Lisa K.* ist 31 und gerade im fünften Mastersemester. Für ihr Studium hat sie sich ein bisschen mehr Zeit als die Regelstudienzeit genommen. Zum einen, weil sie nebenbei arbeitet. Zum anderen, weil es nötig war. Manchmal, sagt sie, braucht sie in Seminaren einfach ein bisschen länger als andere.

Lisa ist das, was man gemeinhin unter „Arbeiterkind“ versteht. Ihre Mama war erst Köchin, dann Hausfrau, jetzt ist sie Altenpflegerin. Ihr Papa ist Elektrotechniker. Nach seinem Wehrdienst in der DDR wollte er eigentlich Elektrotechnik studieren, doch mit der Wende war das nicht mehr möglich: Das BAföG hätte nicht für die vierköpfige Familie gereicht. Also machte ihr Vater eine Ausbildung zum Elektrotechniker und ist jetzt als Abteilungs- und Schichtleiter angestellt. Lisas beruflicher Traum war es immer, Zahnarzthelferin zu werden.

Dass sie eine Ausbildung machen würde, anstatt zu studieren, war auch statistisch viel wahrscheinlicher. Denn nicht nur die Zahlen von Studienanfänger*innen sind unter Arbeiterkindern wie Dir und Lisa viel geringer. Arbeiterkinder haben auch deutlich seltener höhere Bildungsabschlüsse. Während 21 von 100 Arbeiterkindern ein Studium beginnen, beenden nur 15 von ihnen tatsächlich ihren Bachelor. Zum Vergleich: 63 von 100 Akademikerkindern beenden ihr Bachelor-Studium mit einem Abschluss. Und während 45 dieser 100 Akademikerkinder sogar einen Masterabschluss machen, schaffen das nur acht von 100 Arbeiterkindern. Deine Wahrscheinlichkeit, einen Master zu absolvieren, beträgt also nur traurige acht Prozent. Für Akademikerkinder ist sie mehr als fünfmal höher.

Chancengleichheit an der Uni

„Es war zu schnell zu viel“

In der Grundschule bekam Lisa nur eine Empfehlung für die Mittelschule, denn sie war, sagt sie, eine schlechte Schülerin. „Mit dem Schreiben und Lesen lernen hat das alles ein bisschen länger gedauert bei mir“, erklärt sie. Ihre Eltern hätten dafür gekämpft, dass sie wenigstens auf die Realschule habe gehen dürfen. Als sie die abgeschlossen hatte, wusste sie nicht genau, wohin als nächstes. Auf Drängen der Eltern hin schrieb sie sich auf einem beruflichen Gymnasium ein. Doch das ging nicht lang gut. „Es war zu schnell zu viel“, sagt Lisa heute. Nach einem Jahr brach sie das berufliche Gymnasium ab.

Wäre Lisa nach der Grundschule aufs Gymnasium gekommen, wäre in ihrem Leben sicher einiges anders gelaufen. Rein statistisch ist das für Arbeiterkinder aber unwahrscheinlich. Eine Studie der Mainzer Gutenberg-Universität hat 2007 herausgefunden, dass Schüler*innen aus sozial weniger starken Schichten wie Du und Lisa beim Übertritt an die höhere Schule benachteiligt werden. Je höher das Bildungsniveau Deiner Eltern ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Du eine Gymnasialempfehlung bekommst. 81 Prozent der Kinder aus der Oberschicht erhielten eine Gymnasialempfehlung, aber nur 14 Prozent der Kinder aus Unterschichthaushalten. Selbst bei gleichen Leistungen bleibt die Schulempfehlungen eine Frage der sozialen Herkunft. Von den Kindern mit der Durchschnittsnote 2,0 bekamen in der Studie Schüler aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung, während in der Oberschicht nahezu alle Kinder, nämlich 97 Prozent, eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten.

Chancengleichheit in der Schule

Wahrscheinlichkeit, dass Grundschüler+innen mit der Durchschnittsnote 2 eine Gymnasialempfehlung erhalten

Arbeiterkinder bekommen besonders selten Stipendien

2004, mit 16, beginnt Lisa ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Aber schon währenddessen merkt sie, dass sie mehr will. Dass sie nicht den Rest ihres Lebens Zahnarzthelferin sein kann. „Da war auch ein bisschen Neid dabei“, gibt sie zu, „einige meiner Freunde hatten das Abitur gemacht und dann angefangen, zu studieren.“ Sie habe das Studierendenleben auch für sich gewollt.

Also holt Lisa ihr Abitur an der Abendschule nach. In der Zeit wohnt sie zu Hause und bekommt die meiste Zeit elternunabhängiges BAföG – 300 Euro im Monat. Viele Arbeiterkinder sind auf das BAföG angewiesen - wahrscheinlich auch Du. Während zwei Drittel der Akademikerkinder sich beim Studium auf das Geld ihrer Eltern verlassen können, gilt das für nur 15 bis 20 Prozent der Arbeiterkinder. Aber auch Deine Chancen, BAföG zu bekommen, sind im Laufe der Zeit gesunken. Während 1993 63 Prozent der Arbeiterkinder BAföG bekamen, war es 2010 nur noch die Hälfte.

Theoretisch sind auch Stipendien eine Möglichkeit für Arbeiterkinder, um das Studium zu finanzieren. Es gibt sogar einige Stipendien, die sich besonders an Menschen richten, deren Eltern wenig Geld verdienen, wie das Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Laut der Hans-Böckler-Stiftung, die auch Stipendien für Arbeiterkinder vergibt, haben Akademikerkinder aber insgesamt eine höhere Chance auf ein Stipendium. Obwohl sie das Geld weniger nötig haben. Bei 41 Prozent der Studierenden im Erststudium kann laut einer Studie von 2010 die soziale Herkunft als niedrig oder mittel eingeschätzt werden - dazu würdest wahrscheinlich auch Du zählen. Unter den Studierenden, die von den Begabtenförderungswerken finanzielle Unterstützung bekommen, haben jedoch nur 28 Prozent eine niedrige oder mittlere soziale Herkunft. Akademikerkinder sind dort also überrepräsentiert.

„Etwas Handfestes“ studieren

Was Lisa eigentlich studieren wollte, das wusste sie aber nicht so richtig. Also studierte sie, was ihre Eltern ihr rieten: Biologie. Naturwissenschaften, so die Meinung der Eltern, das sei „etwas Handfestes“. Nach zwei Semestern brach die junge Frau das Biologie-Studium wieder ab. Es sei “einfach nicht ihr Ding” gewesen: „Einmal hat ein Professor irgendeine besondere Raupe gezeigt und alle fanden das total spannend – als ich ‘Ihhh’ gesagt habe, haben mich alle komisch angeschaut.“ 2013 schreibt Lisa sich also in den Zwei-Fach-Bachelor Soziologie und Wirtschaftswissenschaften ein.

Heute sagt Lisa, sie sei an die Uni blauäugig herangegangen: „Ich dachte mir, andere studieren doch auch, warum sollte ich das nicht können.“ Aber sie habe noch im ersten Semester nicht gewusst, was eine Immatrikulationsbescheinigung oder Leistungspunkte seien, alles sei für sie komplett neu gewesen. „Meine Eltern konnten mir dabei gar nicht helfen, die kannten das ja gar nicht“, sagt Lisa. Sie habe sich stattdessen viel Hilfe beim Prüfungsamt oder bei anderen Studierenden gesucht. Und ihrerseits später ihren Eltern erzählt, wie Studieren funktioniere. „Die hat das immer sehr interessiert“, sagt Lisa.

Doch auch in ihrem geisteswissenschaftlichen Studium hat sie immer wieder das Gefühl, nicht hinzugehören: „Wenn wir in Seminaren Texte interpretiert haben, bin ich oft nicht mitgekommen. Die anderen waren einfach schneller im Denken und im Arbeiten.“ Sie habe sich die Texte und das Besprochene oft zu Hause noch einmal anschauen müssen, um es wirklich zu verstehen. Auch, weil sie sich an die Wissenschaftssprache erst gewöhnen musste. „Deswegen hatte ich das Gefühl, anders zu sein als die anderen. Ich war einfacher.“ Ihre Art, zu denken, sei anders gewesen. Sie habe andere Worte benutzt. Durch das Studium habe Lisa sich verändert und weiterentwickelt. „Einmal hat meine Oma mich ganz neugierig gefragt, warum ich eigentlich so ungewöhnlich hochdeutsch spreche“, lacht sie. Für Politik und Wirtschaft habe sie sich vor dem Studium kaum interessiert. Aber wenn sie jetzt nach Hause komme, spreche sie vor allem mit ihrem Vater fast nur über Politik. Ihre Eltern interessierten sich sehr für ihre Studieninhalte.

Lisa

„Das hätten wir ja gar nicht von dir gedacht“

In ihrem weiten Familienkreis sei Lisa die einzige mit Master-Studium. Obwohl das selten thematisiert werde, sei sie sich sicher, dass „meine Familie stolz auf mich ist“. Eine Oma habe das auch einmal wenig charmant so ausgedrückt: „Das hätten wir ja gar nicht von dir gedacht.“ Ihren Eltern sei wichtig, dass sie die Chance habe, zu studieren. „Die freuen sich für mich und unterstützen mich, wo es geht“, sagt Lisa. „Aber vielleicht ist mein Papa auch tief drinnen ein bisschen neidisch“, fügt sie nachdenklich hinzu.

Auch ihr Freundeskreis habe sich mit dem Abitur und dem Studium verändert. Zu ihren Mitschüler*innen aus der Mittelschule habe sie gar keinen Kontakt mehr – außer zu denen, die auch ihr Abitur nachgeholt haben. „Wir haben nichts mehr, worüber wir reden können“, erklärt die Studentin. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe mich entwickelt und meine ehemaligen Mitschüler*innen gar nicht.“ Ihr Freund sei wie sie Arbeiterkind und hat auf der Abendschule das Abitur nachgeholt, um zu studieren. „Das ist praktisch, so können wir uns auf der gleichen Basis austauschen“, sagt Lisa.

2016 – den Bachelor hat sie in der Regelstudienzeit geschafft – entscheidet Lisa sich für den Master International Area Studies. „Eigentlich“, erklärt sie schulterzuckend, „hätte ich lieber Personalwirtschaft gemacht, aber dafür waren die Voraussetzungen so hoch, dass ich es gar nicht erst versucht habe.“ Für den Master will die junge Frau sich mehr Zeit lassen, drei statt zwei Jahre.

Der Kampf um das BAföG

Das ist auch finanziell kein Problem. Lisa wohnt nicht mehr bei ihren Eltern, sondern allein in einer Wohnung. Sie lebt vom BAföG. Und das, obwohl sie einmal ihr Studienfach gewechselt hat und den Master nicht in der Regelstudienzeit abschließt. Ein Studienfachwechsel ist auch im BAföG erlaubt – und das Jahr mehr hat die Studentin sich erkämpfen müssen. Das Amt hat es schließlich wegen ihrer Migräne erlaubt. Sonst hätte Lisa in dem Jahr von ihrem Ersparten leben müssen.

„Es war ein Kampf, das genehmigt zu bekommen“, sagt die Studierende im Nachhinein. Sie habe viele Dokumente einreichen müssen. Auch, wenn sie eigentlich gern mit Formularen und Zahlen hantiere – man müsse schnell sein beim BAföG-Beantragen, leicht sei es nicht. Besonders in Ausnahmesituationen wie ihrer. Weil Lisas Eltern so wichtig war, dass sie studieren konnte, hatten sie ihr auch angeboten, sie finanziell zu unterstützen. Das wäre möglich gewesen, weil ihr Vater mittlerweile Abteilungsleiter ist. Doch Lisa wollte sich lieber selbst finanzieren.

Wer studiert hat, ist seltener arbeitslos

Seit Juli 2018 hat sie auch einen 450-Euro-Job als studentische Aushilfe in der Personalabteilung eines Krankenhauses. Bevor sie mit dem Studium fertig ist, möchte sie praktische Arbeitserfahrungen sammeln. Denn nur zu studieren, reicht nicht. Auch nicht als Arbeiterkind.

Finanziell ist es sehr wahrscheinlich, dass sich ein Studium nicht nur für Lisa, sondern auch für Dich lohnt. 2017 hat eine Studie des ifo-Instituts in München gezeigt, dass Menschen mit einem Studienabschluss deutlich seltener arbeitslos sind - und mehr verdienen. In den vergangenen 30 Jahren hat demnach die Arbeitslosenquote von Hochschulabsolvent*innen nie über vier Prozent gelegen, 2017 lag sie bei 2,5 Prozent. Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung hatten zur gleichen Zeit ein Arbeitslosigkeitsrisiko von sieben Prozent, also etwa drei Mal so hoch. Auf ihr ganzes Leben gerechnet verdienen Menschen mit einer Berufsausbildung der Studie nach außerdem nur etwa 600.000 Euro, während Akademiker 990.000 Euro verdienen.



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, dass Deine Eltern keine Akademiker sind. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.