Antonio

„Geh doch zurück nach Afrika“

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Für Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland vieles schwerer als für Menschen ohne. Vor allem, wenn Du einen äußerlich sichtbaren Migrationshintergrund hast, wirst Du wahrscheinlich Diskriminierung erfahren. In dem Fall liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Du Dich häufig diskriminiert fühlst, bei 48 Prozent. Das hat zumindest der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration 2018 in einer Studie herausgefunden.

Ist Dein Migrationshintergrund nicht äußerlich sichtbar, dürftest Du deutlich entspannter leben: Nur 17 Prozent der Menschen ohne äußerlich erkennbaren Migrationshintergrund fühlen sich häufig diskriminiert. Wenn Dein Migrationshintergrund beispielsweise durch Deine Hautfarbe äußerlich erkennbar ist und Du einen Akzent hast, ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass Du diskriminiert wirst: Laut dem Sachverständigenrat fühlen 59 Prozent dieser Menschen sich häufig diskriminiert.

Diskriminierungserfahrung von Zugewanderten nach phänotypischer Differenz und Akzent

Schlechte Bildung in ärmeren Vierteln

Antonio Marcel Vargas ist schwarz. Seit drei Jahren lebt er in Deutschland. Hier, erzählt er, hat er noch keine Diskriminierung zu spüren bekommen. In Brasilien, seiner Heimat, allerdings schon. 54 Prozent der brasilianischen Bevölkerung sind schwarz, sagt Antonio. Die aktuellsten Zensus-Daten von 2010 aus Brasilien nennen ähnliche Zahlen. Obwohl nicht-weiße Brasilianer*innen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, werden sie in Brasilien auf vielfache Weise diskriminiert.

Schwarze Brasilianer*innen haben laut dem 33-Jährigen geringere Chancen auf Bildung als weiße. Auch, weil sie in die Vorstädte und Slums abgedrängt würden, wo es weniger gute Bildung gebe. Wer an einer brasilianischen Universität zugelassen werden will, muss einen umfangreichen Test absolvieren. „Viele Schwarze studieren nicht, weil der Test so schwer ist“, sagt Antonio. Mit ihrer Bildung aus ärmeren Vierteln und Regionen hätten viele Schwarze keine Chance, den Test zu schaffen – und damit aus dem Kreislauf der Armut auszubrechen. Auch brasilianische Wissenschaftler*innen wie der Anthropologe Peter Fry stützen diese These.

Der Rassismus als Erbe der Kolonialzeit

Antonio stammt aus einem armen Viertel einer kleinen Stadt und hatte damit auch keinen Zugang zu guter Bildung. Damit er studieren konnte, musste er hart arbeiten – und brauchte auch ein kleines bisschen Glück. Nach der weiterführenden Schule hatte er direkt angefangen, zu arbeiten – in einer kleinen Snackbar. Die besuchten auch Mitarbeiter*innen einer privaten und damit teuren Sprachschule häufig. Eines Tages hörte er sie von einem Stipendium sprechen. „Nach vier Englischstunden konnte man einen Test machen – und wenn man den bestand, weiter an der privaten Sprachschule lernen“, erinnert er sich.

Der Brasilianer machte den Test – und fiel durch. Trotzdem durfte er an der Schule bleiben, denn deren Inhaber schlug ihm einen Deal vor: Wenn er an der Schule bleiben würde, um in Teilzeit für ihn zu arbeiten, dürfe er auch an der Schule Englisch lernen. Antonio willigte ein. Und begab sich, ohne es zu wissen, auf einen Bildungsweg, der ihn auch an die Universität führen würde.

Die Zahl der Menschen, die gar keine Schule besucht haben, ist in Brasilien laut Antonio unter schwarzen Menschen höher als die unter nicht-schwarzen Menschen. Etwa sieben Prozent der brasilianischen Bevölkerung waren 2017 Analphabet*innen – nur vier Prozent der weißen, aber mehr als 9 Prozent der nicht-weißen Bevölkerung. Bis 1988 war es Analphabet*innen in Brasilien nicht erlaubt, zu wählen – ein Überbleibsel der Sklaverei, das in Brasilien erst 1888 abgeschafft wurde – später als in den USA. Antonio sagt, der Rassismus in seinem Land, über den niemand gern reden will, sei ein koloniales Erbe. Seit dieser Zeit würden Schwarzen in Brasilien nicht dieselben Chancen gegeben wie Weißen.

„Geh doch zurück nach Afrika“

Mehr als zwei Jahre arbeitete Antonio an der Sprachschule und lernte Englisch – bis er von einem Stipendium für schwarze Menschen für die Universität hörte. Er bewarb sich und gewann. Noch am Tag der Zusage bekam er auch an der privaten Sprachschule einen neuen Job: Er durfte in den Anfängerkursen selbst Englisch unterrichten. „Gleichzeitig zu studieren und zu arbeiten, ist aber nicht leicht“, erzählt Antonio. Manchmal sei er gestresst und hektisch gewesen. Einmal habe ein Kollege an der Sprachschule in der Mittagspause deswegen zu ihm gesagt: ‚Wenn das hier nicht gut für dich ist, dann geh doch zurück nach Afrika.‘

Antonio schluckt und hält kurz inne. „Stell dir das mal vor: du bist in deinem eigenen Land, du arbeitest, du studierst – du machst eigentlich alles richtig.“, sagt er. „Und trotzdem ist es nicht genug, um respektiert zu werden.“ Seinem Kollegen sei er bestimmt, aber nicht aggressiv entgegengetreten. Später habe er sich an seinen Chef gewandt und ihm von der Situation erzählt. Der Kollege sei gekündigt worden.

„Ich hätte ihn auch verklagen können, denn Rassismus ist in Brasilien eine Straftat“, erzählt Antonio, „aber mir ging es nur darum, dass er etwas lernt. Ich wollte nicht einfach den Kopf einziehen.“ Er habe früh gelernt, für sich selbst einzustehen. Würde er das nicht machen, sagt er, wäre alles, was Martin Luther King und Rosa Parks erkämpft hätten, umsonst gewesen.

Antonio

„Ich dachte, die Uni sei kein Ort für mich. In meiner Schulzeit gab es keine einzige schwarze Lehrperson.“

Diese Einstellung zum Thema Rassismus habe er aber noch nicht immer gehabt, sondern erst, seitdem er angefangen habe, Englisch zu lernen. „Auf einmal fallen dir verschiedene Dinge auf“, erzählt er. „Dass du keinen einzigen schwarzen Lehrer in der Grundschule hattest. Dass deine Noten zwar gut sind, aber du trotzdem niemals die Klasse vertreten durftest.“

Der Rassismus, sagt Antonio, zeige sich in Brasilien vor allem dadurch, dass kaum Schwarze in gesellschaftlich wichtigen Positionen seien. Das betreffe sowohl Politiker*innen als auch Lehrer*innen, Professor*innen, Bürgermeister*innen, Geschäftsführer*innen und andere. „Das ist auch der Grund, warum ich nach der Schule erst einmal nicht studiert habe, sondern direkt angefangen, zu arbeiten“, erklärt der Brasilianer, „ich dachte, die Uni sei kein Ort für mich. In meiner Schulzeit gab es keine einzige schwarze Lehrperson.“ Entsprechend sei er gar nicht auf die Idee gekommen, zu studieren.

Als er in der Universität dann zum ersten Mal einen schwarzen Professor sah, sei das ein Schlüsselmoment für ihn gewesen. „Ich war so glücklich, weil ich zum ersten Mal gesehen habe, dass es da draußen wirklich einen Platz für mich gibt.“ Erst in diesem Moment sei er wirklich sicher gewesen, dass er Sprachlehrer werden wolle. Gleichzeitig habe ihn die Erkenntnis, dass es trotz des hohen Anteils an Schwarzen in der Bevölkerung nur einen schwarzen Professor an seiner Universität gab, gelehrt, kritisch zu denken.

Mit türkischen Namen geringere Chancen auf ein Bewerbungsgespräch

Internationale Studien zeigen, dass Einwanderer*innen und Nachkommen von Einwanderer*innen es überall schwerer haben, an Bildung und Arbeit zu gelangen. Auch Du wirst laut einer OECD-Studie von 2007 in Deutschland bei gleicher Qualifikation zum Teil drei bis vier Mal so viele Bewerbungen schreiben müssen wie eine Person ohne Migrationshintergrund - nur, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.

Eine Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) fand 2010 heraus, dass allein ein türkischer Name in der Bewerbung reicht, um die Chance auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch um 14 bis 24 Prozent zu senken. Wie insgesamt auf internationaler Ebene Kinder aus Einwandererfamilien hast auch Du schlechtere Chancen auf höhere Bildung als andere Kinder.

Rückrufrate und Migrationshintergrund

Laut Antonio ist Bildung aber gerade der Schlüssel, um die Diskriminierung und die Ungleichheit zu beenden. „Ohne Bildung kommen wir nie dorthin, wohin wir wollen, ohne Bildung können wir die Dinge nicht verändern“, sagt er. Durch Bildung sei er von einem Jungen, der in einer Snackbar arbeitete, zu einem Mann geworden, der fünf verschiedene Sprachen spricht und in einem anderen Land studiert.

Antonio ist froh, dass er nach Deutschland gezogen ist. Auch, wenn auch hier nicht alles perfekt ist. „In Brasilien sind nicht alle Menschen gleich“, sagt er.



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, einen Migrationshintergrund zu haben. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.