Lisa

Studieren allein reicht nicht

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Wäre Lisa K.* nach der Grundschule aufs Gymnasium gekommen, wäre in ihrem Leben sicher einiges anders gelaufen. Rein statistisch ist das für Arbeiterkinder aber unwahrscheinlich. Eine Studie der Mainzer Gutenberg-Universität hat 2007 herausgefunden, dass Schüler*innen aus sozial weniger starken Schichten wie Du und Lisa beim Übertritt an die höhere Schule benachteiligt werden.

Je höher das Bildungsniveau Deiner Eltern ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Du eine Gymnasialempfehlung bekommst. 81 Prozent der Kinder aus der Oberschicht erhielten eine Gymnasialempfehlung, aber nur 14 Prozent der Kinder aus Unterschichthaushalten. Selbst bei gleichen Leistungen bleibt die Schulempfehlungen eine Frage der sozialen Herkunft. Von den Kindern mit der Durchschnittsnote 2,0 bekamen in der Studie Schüler*innen aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung, während in der Oberschicht nahezu alle Kinder, nämlich 97 Prozent, eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten.

Chancengleichheit in der Schule

Wahrscheinlichkeit, dass Grundschüler+innen mit der Durchschnittsnote 2 eine Gymnasialempfehlung erhalten

Haben alle die gleichen Chancen?

In Deutschland studieren derzeit 2,8 Millionen Menschen – so viel wie noch nie zuvor. 52 Prozent kommen aus einer Akademikerfamilie, d.h., dass mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss hat. So beschreibt das Deutsche Studentenwerk (DSW) in ihren Ergebnissen der 21. Sozialerhebung u.a. den/die typischen Studierende/n in Deutschland. Demzufolge kommen 48 Prozent der aktuell Studierenden aus einer Familie ohne akademischen Hintergrund. In der 20. Sozialerhebung aus dem Jahr 2012 waren es 50 Prozent. Der leichte Abfall auf 48 Prozent lässt sich damit erklären, dass der Anteil der Eltern mit einem akademischen Abschluss insgesamt leicht gestiegen ist. „Allerdings“, so heißt es offiziell weiter, „erlauben diese Werte allein noch keine Aussagen über eine Veränderung der Chancenverhältnisse“, da der Abgleich mit der Gesamtbevölkerung fehle. ArbeiterKind.de geht angesichts der Zahlen davon aus, dass sich die Chancen auf den Bildungsaufstieg zwar nicht verschlechtert, allerdings auch nicht verbessert haben.

Chancengleichheit an der Uni

2017 mehr Studienanfängerinnen als -anfänger

Zu Deinem Schicksal als Arbeiterkind kommt für Dich, wie auch für Lisa hinzu, dass Du weiblich bist. Aber gute Nachrichten: Du wirst als Frau sehr wahrscheinlich keine Probleme damit haben, ein Studium an einer Universität aufzunehmen. 2017 lag die Zahl der Studienanfängerinnen mit 50,8% sogar knapp über den männlichen Studienanfängern. Bei allen eingeschriebenen Studierenden hielten sich im Wintersemester 2015/16 Frauen mit 49,5% und Männer mit 50,5% die Waage.

Heben sich die beiden Wahrscheinlichkeiten damit auf?

Lisa zumindest ist gerade im fünften Mastersemester International Area Studies. Es sieht also auch für Dich gut aus.

Lisa ist das, was man gemeinhin unter „Arbeiterkind“ versteht. Ihre Mama war erst Köchin, dann Hausfrau, jetzt ist sie Altenpflegerin. Ihr Papa ist Elektrotechniker.

„Es hat alles ein bisschen länger gedauert“

In der Grundschule bekam sie nur eine Empfehlung für die Mittelschule, denn sie war, sagt sie, eine schlechte Schüler*innenin. „Mit dem Schreiben- und Lesen-Lernen hat das alles ein bisschen länger gedauert bei mir“, erklärt sie. Ihre Eltern hätten dafür gekämpft, dass sie wenigstens auf die Realschule habe gehen dürfen. Als sie die abgeschlossen hatte, wusste sie nicht genau, wohin als nächstes. Auf Drängen der Eltern hin schrieb sie sich auf einem beruflichen Gymnasium ein. Doch das ging nicht lang gut. „Es war zu schnell zu viel“, sagt Lisa heute. Nach einem Jahr brach sie das berufliche Gymnasium ab.

2004, mit 16, begann sie ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Aber schon währenddessen merkte sie, dass sie mehr will. Dass sie nicht den Rest ihres Lebens Zahnarzthelferin sein kann. „Da war auch ein bisschen Neid dabei“, gibt sie zu, „einige meiner Freunde hatten das Abitur gemacht und dann angefangen, zu studieren.“ Sie habe das Studierendenleben auch für sich gewollt.

Also holte Lisa ihr Abitur an der Abendschule nach. Anfangs arbeitete sie noch nebenbei als Zahnarzthelferin, aber später reichte dafür die Zeit nicht mehr. „Wenn man jeden Tag von 8 bis 16 Uhr in der Schule ist und danach noch lernen muss, schafft man das nicht“, sagt sie achselzuckend. Bevor der richtige Abitur-Kurs begann, musste sie an der Abendschule ein Jahr lang einen sogenannten Vorkurs besuchen, weil auf ihrem Realschulzeugnis eine Drei zu viel stand. Vier Jahre dauert es, bis Lisa ihr Abitur hat. In der Zeit wohnte sie zu Hause und bekam die meiste Zeit elternunabhängiges BAföG – 300 Euro im Monat.

Anstieg der Frauen in MINT-Fächern

Dein Vorteil eine Frau zu sein, hilft Dir leider nur an den Universitäten. Ein Blick auf die Fachhochschulen zeigt, dass Männer hier mit 57,9% in der Mehrzahl sind. Die Frage nach einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis hängt vor allem davon ab, welche Studienfächer man sich anschaut. Besonders in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist der Anteil der Frauen zwar inzwischen leicht steigend, aber weiterhin gering. 2016/17 lag der Anteil der weiblichen Studentinnen bei 28,4%. An den Fachhochschulen ist also noch ausreichend Platz für Frauen wie Dich. Was Lisa eigentlich studieren wollte, das wusste sie nicht so richtig. Nach dem Abitur nahm sie sich deswegen noch ein Jahr Zeit, in dem sie wieder als Zahnarzthelferin arbeitete. Doch auch danach fehlte die Erleuchtung. Also studierte sie, was ihre Eltern ihr rieten: Biologie. Naturwissenschaften, so die Meinung der Eltern, das sei „etwas Handfestes“. „In der Schule war ich in Biologie immer gut gewesen, interessiert hat es mich auch“, erzählt Lisa. Also habe sie sich 2012 an der Uni Halle eingeschrieben.

„Andere studieren doch auch, warum sollte ich das nicht können.“

Heute sagt Lisa, sie sei an die Uni blauäugig herangegangen: „Ich dachte mir, andere studieren doch auch, warum sollte ich das nicht können.“ Aber sie habe noch im ersten Semester nicht gewusst, was eine Immatrikulationsbescheinigung oder Leistungspunkte seien, alles sei für sie komplett neu gewesen. „Meine Eltern konnten mir dabei gar nicht helfen, die kannten das ja nicht“, sagt Lisa. Sie habe sich stattdessen viel Hilfe beim Prüfungsamt oder bei anderen Studierenden gesucht. Und ihrerseits später ihren Eltern erzählt, wie Studieren funktioniere. „Die hat das immer sehr interessiert“, sagt Lisa.

Nach zwei Semestern brach die junge Frau das Biologie-Studium wieder ab. Denn das war so gar nicht ihr Ding. 2013 schrieb Lisa sich in den Zwei-Fach-Bachelor Soziologie und Wirtschaftswissenschaften ein.

Doch auch dort hatte sie immer wieder das Gefühl, nicht hinzugehören: „Wenn wir in Seminaren Texte interpretiert haben, bin ich oft nicht mitgekommen. Die anderen waren einfach schneller im Denken und im Arbeiten.“ Sie habe sich die Texte und das Besprochene oft zu Hause noch einmal anschauen müssen, um es wirklich zu verstehen. Auch, weil sie sich an die Wissenschaftssprache erst gewöhnen musste. „Deswegen hatte ich das Gefühl, anders zu sein als die anderen. Ich war einfacher.“ Ihre Art, zu denken, sei anders gewesen. Sie habe andere Worte benutzt. Traurig habe sie das aber nie gemacht. „Manchmal war das vielleicht unangenehm, aber ich war Mitte 20, ich konnte damit leben“, sagt Lisa. Und teilweise sei sie mit ihrer Denkweise und ihren einfachen Worten genauso ans Ziel gekommen.

Nur studieren reicht nicht

Insgesamt sei ihr Alter ihr häufig als Vorteil im Studium erschienen. „Klar hat das bei mir alles etwas länger gedauert, aber dafür hatte ich schon gearbeitet und gelernt, selbstständig zu sein und mit Menschen umzugehen.“ Manchmal habe sie sich lustig gemacht über ihre jungen Kommiliton*innen, die nie gearbeitet hatten und mit 18 direkt angefangen hatten, zu studieren. Sie habe oft das Gefühl gehabt, weiter zu sein.

Das Studium hat Lisa verändert und weiterentwickelt. „Einmal hat meine Oma mich ganz neugierig gefragt, warum ich eigentlich so ungewöhnlich hochdeutsch spreche“, lacht Lisa. Für Politik und Wirtschaft habe sie sich vor dem Studium kaum interessiert. Aber wenn sie jetzt nach Hause komme, spreche sie vor allem mit ihrem Vater fast nur über Politik. Ihre Eltern interessierten sich sehr für ihre Studieninhalte.

Seit Juli 2018 hat Lisa auch einen 450-Euro-Job als studentische Aushilfe in der Personalabteilung eines Krankenhauses. Bevor sie mit dem Studium fertig ist, möchte sie praktische Arbeitserfahrungen sammeln. Denn nur zu studieren, reicht nicht. Auch nicht als Arbeiterkind.

Leider wirst Du Dich als Frau nach Deinem Studium darauf einstellen müssen, bei gleicher Arbeit und Qualifikation – die Du Dir als Arbeiterkind mutig und stolz erarbeitet hast-, schlechter bezahlt zu werden als Deine männlichen Kollegen. Wenn Du wissen möchtest, welche Auswirkung Dein Geschlecht auf Deine Zukunft hat, dann kannst Du hier mehr darüber lesen.

Lisa

„Das hätten wir ja gar nicht von dir gedacht“

Frauen werden im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen überproportional häufig im Beruf diskriminiert. 42 Prozent der Diskriminierungserfahrungen von betroffenen Frauen werden im Berufsleben gemacht. Diese Erfahrungen sind dabei vielschichtig, besonders häufig ist dabei immer noch die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern. Im Jahr 2016 betrug die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Bruttoverdienst der Frauen (16,26 Euro) und dem der Männer (20,71 Euro) etwa 21 Prozent. Dieser sogenannte unbereinigte Gender Pay Gap hat eine Vielzahl von Ursachen, unter anderem schließt er die Tatsache ein, dass Frauen sehr viel häufiger in Teilzeit arbeiten.

In ihrem weiten Familienkreis sei Lisa die Einzige mit Master-Studium. Obwohl das selten thematisiert werde, sei sie sich sicher, dass „meine Familie stolz auf mich ist“. Eine Oma habe das auch einmal wenig charmant so ausgedrückt: „Das hätten wir ja gar nicht von dir gedacht.“ Ihren Eltern sei wichtig, dass sie die Chance habe, zu studieren. „Die freuen sich für mich und unterstützen mich, wo es geht“, sagt Lisa. „Aber vielleicht ist mein Papa auch tief drinnen ein bisschen neidisch“, fügt sie nachdenklich hinzu.

* Name von der Redaktion geändert



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, dass Deine Eltern keine Akademiker sind. Außerdem hast Du angegeben, dass Du weiblich bist. Diese zweite Eigenschaft wird auch in diesem Text näher beleuchtet. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.