Hin und Wegkommen

Zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, Abbruch und Aufbruch: Die Lausitz sucht ihre Zukunft.

Hin und Weg trotz schlechter Verbindung

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten


Wer das erste Mal Richtung Lausitz aufbricht, kann das Problem Strukturwandel hautnah miterleben. Sozusagen in der Nussschale. Denn sobald eine der begehrten, weil seltenen, Bahnverbindungen erwischt wurde und sich der Zug von Funkloch über Funkloch bis ins Lausitzer Epizentrum durchgekämpft hat, wird nachvollziehbar, warum sich so manche Lausitzerin nicht mitgenommen oder falsch verstanden fühlt. Denn schlechter als das regionale Streckennetz ist nur das der Smartphones. Aber immerhin bekommt ohne Internet auch keine*r mit, wenn mal wieder der Zug nicht fährt.

Auf der Strecke geblieben

Ein umtriebiger Unternehmer, der zwischen Berlin und Umland pendeln muss, hat es da nicht leicht, wie die Erfahrungen von Firmenchef Micha Freudenberg aus Senftenberg zeigen.

„Ich fahre mit den Öffentlichen überhaupt nicht. Ehe ich mit dem Zug in Cottbus oder Senftenberg bin, No-Go. In Berlin funktioniert das sehr gut, da lässt man freiwillig das Auto stehen. Aber sobald es irgendwo aufs Land geht, natürlich erreicht man die Städte schon, aber sobald man weiter möchte, ist man wirklich angearscht.“

Gähnende Leere, aber hoffentlich nicht mehr lang. Der Cottbuser Bahnhof. (Quelle: Lisa Ossowski)

Gähnende Leere, aber hoffentlich nicht mehr lang. Der Cottbuser Bahnhof. (Quelle: Lisa Ossowski)

Die Netzausfälle sind nicht nur – aber auch – auf die Bahnreform der 90er zurückzuführen. Zwar wurden Hochgeschwindigkeitslinien quer durch die Bundesrepublik immer besser, der Ausbau in strukturschwachen Regionen ist jedoch auf der Strecke geblieben. Die Auswirkungen bekam die Lausitz am eigenen Leib zu spüren. Denn da ländliche Gebiete bei Infrastrukturplanungen ohnehin zu wenig berücksichtigt werden, wurde vorrangig im Osten der Republik stillgelegt, abgebaut und eingestellt. Wohin das führt, zeigt aktuell Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke. Denn mittlerweile ist sein größter Wunsch nichts weiter als ein zweites Gleis von Cottbus nach Berlin. Da ist sogar die Kommunalpolitik mal einer Meinung und alle stimmen mit ein, so auch die Bürgermeisterin von Spremberg Christine Herntier:

„Dazu gehört für uns aber auch, dass die Anbindung der Lausitz an die Metropolregionen nach Berlin, nach Dresden nach Leipzig, aber auch nach Breslau und nach Prag deutlich besser wird.“

Da blickt auch der Ex-Städter Jan Hufenbach optimistisch in die Zukunft und hofft

„…dass so schnell wie möglich eine ICE-Verbindung von Berlin nach Görlitz, Zittau und vielleicht sogar bis nach Tschechien entstehen soll. Das wäre der Hammer.“

Aber bis es soweit ist, bleibt das Brandenburger Landleben ohne fahrbaren Untersatz eher anstrengend. Vor allem Pionierarbeit lässt sich autofrei nur schwer umsetzen, wie die Raumpionier*innen Arielle und Jan feststellen durften:

„Als Städter bist du gewohnt bedient zu werden, bist du viel mehr Teil einer Dienstleistung- und Servicegesellschaft, als dass du das auf dem Land seien könntest. Als Städter läufst du in der Regel nicht länger als zehn Minuten und da ist irgendeine Bahn oder Bus oder Mietauto oder Mietfahrrad. Auf jeden Fall kommst du da weg und betrachtest das als selbstverständlich. Genau wie den Späti. Der hat 24 Stunden auf zu sein. Das sind Geschichten, die aufm Land nicht laufen. Da muss man sich umstellen. Hier kommt am Tag vier Mal der Bus? Okay dann ist das so.“

Na gut, kann auch etwas von Dorfromantik haben, wenn nur viermal am Tag der Bus kommt. Aber spätestens, als der erste Jungpionier täglich in den Kindergarten gebracht werden musste, hat der Blick auf den Fahrplan auch bei Arielle und Jan Hufenbach für Ernüchterung gesorgt. Ein Auto musste her. In Berlin hatten sie keins. In Klein Priebus mittlerweile zwei.

Aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen kann aber nicht jede*r Dorfbewohner*in auf ein eigenes Auto zurückgreifen. Dann wird es mehr als problematisch, wenn der Busfahrplan immer kürzer, die Distanzen aber länger werden. Wenn vor Ort alles umzieht oder schließt, von der Grundschule bis zum Kiosk. Wenn der Postkasten am Gemeindeamt abmontiert wurde, wird nicht nur Briefe versenden auf einmal zur Odyssee.

Freut sich über unbefahrene Straßen: Seit einigen Jahren ist der Wolf auch in der Lausitz wieder heimisch. (Bild: pixabay)

Freut sich über unbefahrene Straßen: Seit einigen Jahren ist der Wolf auch in der Lausitz wieder heimisch. (Bild: pixabay)

Mobil(e)isierung durch Digitalisierung

Und obwohl sich Benachteiligung schon im analogen Personenverkehr als ungünstig erwiesen hat, wurde das Konzept nahezu identisch auf den digitalen Datenverkehr übertragen. Trotz Förderungen vom Bund wurde das Versprechen vom schnellen Breitband-Internet für alle bis Ende 2018 nicht eingelöst, sondern vielmehr ersetzt durch das neue Versprechen vom schnellen 5G-Internet für alle. Dass Deutschland beim Ausbau leistungsstarker Netze fernab der Großstädte immer noch hinterherhinkt, stellt sich für die Spremberger Bürgermeisterin und Sprecherin der Lausitzrunde Christine Herntier tagtäglich unter Beweis:

„Seit fünf Jahren muss ich meinen Bürger*innen in den Ortsteilen erklären, warum die immer noch nicht telefonieren können – so viel zum Thema Bürokratie – da wirst du doch irre. Inzwischen hatten wir 3G 4G, jetzt wird von 5G geredet, es wird wieder alles über den Haufen geschmissen, muss immer wieder neu ausgeschrieben werden.“

Erschwert wird die Situation durch strenge Regeln im Wettbewerb um digitale Infrastruktur und Daten, aber auch durch technische und geografische Gegebenheiten sowie Bedürfnisse der Bevölkerung. Denn je länger ein Kabel, desto langsamer die Daten und je weniger Kabel, desto mehr Funktürme. Die optimale Lösung gibt es nicht, jedoch müssen die Probleme in den Griff bekommen werden, wenn die Alterung auf dem Land gestoppt werden soll. Denn vor allem für die meisten jungen Menschen ist ein Leben ohne Internet heutzutage unvorstellbar. Aber auch für alle anderen ermöglicht das Medium Internet nicht nur öffentliche Teilhabe, sondern auch die Anbindung an die Welt, wenn mal wieder kein Zug kommt. Dass es damit aber nicht getan wäre, zeigen die vielen Menschen, die unkritisch durch die sozialen Netzwerke irren und Hass und Hetze verbreiten. Schnelles Internet für alle sollte somit zwar als Bedingung, aber ebenso als nur ein Teil eines digitalen Wandels in der Gesellschaft verstanden werden, den IT-ler Micha Freudenberg wie folgt beschreibt:

„[Ich würde] gern das Wort Digitalisierung auseinanderpflücken wollen. Die klassische Begriffsklärung für Unternehmen ist, dass sie irgendein Programm oder Prozess haben, der abgebildet wird und jetzt digital ist. Für mich ist es mehr eine Definition des Mindsets, der Denkweise. Wie muss ich denken, um in unserer Welt sich weiterzuentwickeln und weiter voranzukommen. Die Technologie kann dabei nur unterstützen, sie kann das Werkzeug dessen sein, wo ich hinwill. Das heißt, ich muss immer meine persönlichen Ziele als solche haben und dann darf die Digitalisierung dabei helfen. Sie darf aber nicht ausschließlich das sein, was ich will. Ich würde das Ganze als einen Kulturwandel bezeichnen, die Digitalkultur. Das, was in den Köpfen ankommen muss, ist eine Denkweise, wie sich die Welt gerade ändert und wie ich damit umgehen muss.“

Vielleicht ist es die Digitalisierung, die als Zukunftsbotin das Geheimnis verrät, wie der Geist einer industriellen Vergangenheit verabschiedet werden kann.

Wer kommt zu Wort?

Die Lausitz hat eine Zukunft – davon ist der 31-jährige Alexander Dettke überzeugt. 2013 gründete er gemeinsam mit Freunden das Kunst- und Musikfestival Wilde Möhre auf einem alten Tagebaugelände bei Drebkau. Dettke, der lange in Chicago und Japan gelebt hat, kam 2009 zum Studieren nach Berlin. Gemeinsam mit seinen Freunden initiierte er einen philosophischen Zirkel, von dem er sich Antworten auf die großen Fragen des Lebens versprach: Was ist Liebe? Was ist Freundschaft? Welche Werte zählen? Die vielen Berliner Freiluft-Partys inspirierten Dettke und seine Freunde damals dazu eigene Veranstaltungen zu organisieren – und diese mit ihrer Philosophie eines guten Lebens zu verbinden. Für die Utopie, die sich Dettke und seine Freunde ausgemalt hatten, war Berlin jedoch irgendwann zu klein, zu oberflächlich, zu destruktiv. Daraufhin suchte er nach einem Platz mit Paradiespotential – und fand ihn in der südbrandenburgischen Pampa.

Wo 1986 noch das Dorf Radeweise eingezeichnet war, findet sich auf der Karte heute ein weißer Fleck. Ihren Heimatort nahe Spremberg gibt es nicht mehr. Christina Grätz gehört zu den schätzungsweise 120.000 Menschen, die ihr Zu Hause für die Kohle verlassen mussten. In ihrer Jugend hat die heute 44-Jährige gegen die „Scheißkohle“ demonstriert. Aber das ist lange her. Als sie erwachsen wurde, merkte sie, dass sie den Kohleabbau nicht verhindern kann – und konzentrierte sich stattdessen darauf, der Natur etwas wiederzugeben. Nachdem die studierte Biologin zehn Jahre in einem Ingenieurbüro gearbeitet hatte, hat sie 2011 den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Seither bringt sie ehemalige Tagebaue mit ihrer Firma Nagola Re wieder zum Blühen – und ist damit sehr gefragt, Dass ihre Idee so einschlägt, hat Christina Grätz während der Gründung nicht geahnt. Der Start war mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Damit es andere Gründer künftig einfacher haben, mit ihren Ideen in der Wirtschaft Fuß zu fassen, wünscht sie sich weniger Bürokratie und mehr Flexibilität.

Nicht nur, weil er selbst 1981 in der geteilten Stadt Guben geboren ist, ist Juniorprofessor Holger Seidlitz die Zusammenarbeit mit Polen wichtig. In der internationalen Kooperation sieht er noch viele ungenutzte Chancen für die Zukunft der Lausitz. Vor allem die einseitig national ausgerichtete Förderkultur schränke länderübergreifende wissenschaftliche Projekte derzeit noch ein. Seit März 2015 leitet Holger Seidlitz das Fachgebiet (Leichtbau mit strukturierten Werkstoffen)[https://www.b-tu.de/fg-leichtbau/] an der BTU Cottbus-Senftenberg. Sein Spezialgebiet sind Neuentwicklungen im Bereich der Faserverbundwerkstoffe. Mit seinen Studierenden hat er u.a. ein neuartiges, besonders robustes Snowboard aus über 10 Schichten verschiedenster Materialien konstruiert und gebaut. Davor hat er in Senftenberg, Dresden und Chemnitz studiert, promoviert und gearbeitet. Die Geschichte des heute 37-Jährigen ist so auch die eines erfolgreichen Rückkehrers, der die Zukunft im Süden Brandenburgs aktiv mitgestaltet.

Als Christine Herntier 2014 die freie Wirtschaft verließ und zur Bürgermeisterin Sprembergs gewählt wurde, ahnte sie nicht, wie vielen Papierbergen sie sich stellen muss, um etwas zu verändern. Nach fünf Jahren sagt sie, habe sich eine gewisse Resignation eingestellt, doch sie kämpft für Spremberg und die Region. Denn so einen Einbruch wie in den 90er Jahren will sie nicht noch einmal erleben. Als Sprecherin der (Lausitzrunde)[http://www.lausitzrunde.de/lausitzrunde-3/] vertrat sie die Lausitz in den Verhandlungen der Kommission für Wachstum, Struktur und Beschäftigung. Die Empfehlungen der Kommission seien eine Chance, nun brauche es Mut, sie zu ergreifen. Christine Herntier ist geboren und aufgewachsen in Spremberg.

2010 hat Jan Hufenbach die Liebe nach zehn Jahren Vollgas in Berlin gut 200 km südlich in den Landkreis Görlitz gezogen. Dort lebt und arbeitet der Raumpionier nun in einem kleinen Dorf mit ungefähr 80 Einwohnern direkt an der polnischen Grenze, also ziemlich „janz weit draußen – vor der Stadt, vor den Metropolen“, dort wo sich Wolf, Wildschwein und Kranich gute Nacht wünschen. Er sagt: „Aus der Großstadt „aufs Land“ zu wechseln ist ein gewaltiger Schritt. Es ist eben doch ganz schön anders. Es ist aber auch – ohne diesen Schritt zu verkitschen – wirklich ganz schön dieses Anderssein.“

Die im Rahmen des Strukturwandels diskutierte Digitalisierung ist für Michael Freudenberg eine Frage des Mindsets: „Das, was in den Köpfen ankommen muss, ist eine Denkweise. Wie muss ich denken, um mich in unserer Welt weiterzuentwickeln und weiter voranzukommen?“ Dass alle Mitarbeiter eines Unternehmens dabei mitgenommen werden, sei eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen digitalen Wandel. Michael Freudenberg ist Gründer und Geschäftsführer der Digitalagentur neuZiel in Senftenberg. Seine Agentur erstellt Webseiten, entwickelt webbasierte Anwendungslösungen und berät Unternehmen auf ihrem digitalen Weg in die Zukunft. Bis 2014 war er als Administrator an der Hochschule Lausitz in Cottbus tätig – bevor er die Selbstständigkeit wagte.